Nicht jeder hat das besondere Vergnügen, am bundesweiten „Tag des Vorlesens“ von einer Literaturpreisträgerin vorgelesen zu bekommen. Ein Auszug aus ihrem Roman:
„Viel Zeit zum Vergessen blieb Lewadski nicht mehr übrig. Laut Diagnose müsste es ihm dreckig gehen. Starker Gewichtsverlust, Nachtschweiß, Fieber, Schwächegefühl – aber außer Herzrasen, das Lewadski wie einen Jugendlichen befiel, wenn er in seiner Elisabeth-Suite von Fenster zu Fenster ging oder die Kleinode des Zimmerinventars bewunderte, ließen alle diese Symptome auf sich warten. Das Herz allerdings meldete aus der Brusttasche von Lewadskis Schlafanzug unbändige Freude an den schönen Dingen, Freude und Lust, Schönheit zu schauen wie das lichte Angesicht Gottes. Schönheit trotz des ekelhaften Verfalls seines Körperinstituts, Schönheit trotz Hässlichkeit und gerade deswegen. Schönheit.“
Warum gerade eine 32jährige Autorin – die Ukrainerin Marjana Gaponenko – einen 96jährigen Protagonisten in den Mittelpunkt Ihres zweiten (und bisher letzten) Romans stellt („Wer ist Martha?“ bei Suhrkamp, Berlin 2012), wollten die Schülerinnen und Schüler der Q1-Leistungskurse Deutsch (Stietenroth / Schulte Steinberg) am 15.11.2013, 3. und 4. Stunde wissen – und erlebten als Antwort nicht nur eine humorvolle Lesung aus dem Roman, sondern auch ein sehr interessantes Gespräch mit der Autorin, die sich als ehemaliges Partygirl outete, aber durch die Begegnung mit einem hochbetagten Senior in folgenreicher Weise auf die unabänderlichen Tatsachen menschlich-körperlichen Verfalls aufmerksam wurde. Gerade aus der Perspektive dieses Menschen gestaltet der Roman die Freude am Leben, für die Narzissmus und offensive Körperlichkeit der Jugend wohl doch keine Voraussetzung darstellt.
Diese Hotelbarszene, die die Autorin selbst erlebte – der elegante, sehr alte Gentleman ohne Zähne, der sich an der Bar ein Eis bestellt, zwischen zwei biertrinkenden Fernfahrern – weist auf das Thema Einsamkeit, auch inmitten von Menschen, das die Autorin umtreibt. Sie nimmt die Unzufriedenheit mit den sozialen Umständen und den Erneuerungen als erste Stufe zur Einsamkeit wahr. Um dies zu umgehen, möchte sie unter anderem später als ältere Frau in einer Kapsel durch einen Tunnel, welcher sich derzeit in Bau befindet, fahren (Projekt Hyperloop, s. Hinweis unten). Auf die Frage, warum jedoch ihre Romane sich in der Vergangenheit abspielen – der nächste in einer Pferdekutsche – entgegnet sie, dass sie sich derzeit in der Phase befinde, in der sie sich vom Alten befreie. Ihr übernächstes Buch sei bereits geplant und solle dann in der Zukunft spielen.
Die Autorin erhielt den diesjährigen Adelbert-von-Chamisso-Preis, der Autor/innn/en verliehen wird, die zwar muttersprachlich nicht deutsch sind, aber in dieser Sprache schreiben. Und das tut sie wirklich nicht schlecht – mit großer Virtuosität und viel Sprachwitz.
Marjana Gaponenko bekennt, dass sie nicht ernsthaft über traurige Dinge schreiben könne, da sie sonst zum Beispiel bei der Idee des Todes verrückt werde. Die Frage bestehe eher darin, wie man ein Thema betrachtet, auch wenn es ein trauriges sei: Und ihr gelingt eine lebensfrohe, ja lustige Hommage an das Alter.
Ihre Empfehlung an die Schülerinnen und Schüler der Leistungskurse: ,,Bleibt euch selbst treu. Macht euch nicht zu viele Sorgen. Das Leben ist cool.''
von Miu-Ho Tang und Jörg Schulte Steinberg
Hinweise:
Hyperloop
Marjana Gaponenko:
http://de.wikipedia.org/wiki/Marjana_Gaponenko
http://www.youtube.com/watch?v=IBRCDrowrjE